Die Handbremse lösen
Ganzheitliche Logopädie setzt an den Ursachen einer Sprachstörung oder Entwicklungsverzögerung an.
Zum Beispiel mit individuell ausgewählten Bewegungsübungen. Sprechzeit!-Gründerin Susanne Richter erklärt die Gründe dafür.
Juni 2021, von Arndt Schreiber
Susanne, am Schreibtisch sitzen und Laute üben: Diese Art von Logopädie klingt etwas altbacken und wie aus dem letzten Jahrtausend. Wie sollte ein Therapieansatz für eine moderne Logopädie aussehen?
Wir verstehen heutzutage viel besser als noch vor einigen Jahren, wie unser Gehirn und auch das Lernen funktionieren. Wir kennen die Zusammenhänge zwischen frühkindlicher Entwicklung, Hörverarbeitung, Haltung und Bewegung einerseits und richtigem Sprechen, Schreiben und vor allem effizientem Lernen andererseits. Deshalb brauchen wir für die Logopädie im Jahr 2020 einen möglichst breiten, am besten ganzheitlichen Ansatz.
Warum ist körperliche Bewegung so wichtig für richtiges Sprechen?
Sprechen ist Bewegung, und zwar eine feinmotorische Bewegung. Wenn wir uns verständlich machen wollen, müssen viele Muskeln im Gesicht und vor allem im Mundbereich koordiniert und präzise angesteuert werden. In der natürlichen Entwicklung eines Kindes geht der Ausbildung einer guten Feinmotorik allerdings eine gute Koordination der Grobmotorik voraus, also unserer Gliedmaßen am Körper.
Traditionell arbeiten Logopäden oft nur an der feinmotorischen Steuerung der Sprechorgane. Aber Kindern, die Logopädie benötigen, fehlt es entwicklungsbedingt oft auch an einer guten Steuerung ihrer Grobmotorik. In solchen Fällen therapieren traditionell arbeitende Logopäden nur die Symptome, nicht aber die Ursachen des Problems. Hingegen kommen ganzheitlich arbeitende Therapeuten mit Bewegungsübungen für den gesamten Körper an die Ursachen einer Sprachentwicklungsstörung oder -verzögerung heran.
Ganz wichtig ist das für Eltern, die bei ihren Kindern „die Handbremse lösen“ wollen. Die also nicht nur auf korrektes Sprechen Wert legen, sondern Fähigkeiten von Grund auf stärken wollen, so dass ein Kind sein ganz persönliches Leistungspotenzial ausschöpfen und glücklich durchs Leben gehen kann. Und das wünschen sich wohl alle Eltern, oder?
Wie sieht die Therapie mit Bewegungsübungen in der Logopädie nun konkret aus und was bedeutet das für die Eltern?
Ein Schlüssel für den Therapieerfolg ist ein ausführliches Vorgespräch mit den Eltern. Dabei werden auch die frühkindliche Entwicklung und mögliche Besonderheiten der Schwangerschaft thematisiert.
Ein nach dieser Erstdiagnose individuell zusammengestelltes Therapiekonzept kann zum Beispiel Übungen zur besseren Integration frühkindlicher Restreflexe enthalten oder zur besseren Vernetzung der unterschiedlichen Hirnareale. Der Trainingseffekt solcher Übungen für das Gehirn ist wissenschaftlich gut belegt und setzt, wie erwähnt, an den Ursachen einer Entwicklungsverzögerung oder motorischen Schwäche an.
Wichtig ist, dass die Eltern bei einer auf Bewegungsübungen basierten Logopädie dabei sind. Bei einem ganzheitlichen Ansatz werden die Eltern als Co-Therapeuten mit einbezogen: Sie sollen Bescheid wissen über Sinn und Ziele einer bewegungsgestützten Therapie. Denn es sind die Eltern, die die empfohlenen Übungen schließlich zu Hause mit ihren Kindern für täglich etwa 10 bis 15 Minuten machen sollten.
Hm, das klingt nach Aufwand für die Eltern?
Ja, das hört sich für manche Eltern nach etwas Aufwand an in ihrem oft hektischen Alltag. Aber: Ganzheitliche Logopädie ist eine wichtige Investition in die Zukunft ihrer Kinder. Sechs oder sieben Mal Üben pro Woche bringt viel mehr, als nur ein wöchentlicher Termin bei der Logopädin. In der Regel zeigen Kinder bei einem ganzheitlichen Therapieansatz recht schnell deutliche Verbesserungen beim Sprechen, beim Lernen und auch im Sozialverhalten.
Außerdem ist die Freude über erreichte Ziele viel größer, wenn Eltern und ihre Kinder gemeinsam ein Problem gelöst haben und die Verantwortung nicht allein auf den Schultern der Kinder oder der Logopäden liegt. So ein Erfolgserlebnis stärkt immer auch den Familienzusammenhalt.